Rotation. Oder: Die neuen Versorger
von Arno Grüter
3. Mai 2025
Zurzeit ist die «grosse Rotation» vom «Growth» respektive «Wachstum»-Stil in den «Value»-Stil in aller Munde. Was steckt dahinter? Wie soll kann man als Investor damit umgehen?

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Die zwei Bestandteile von Wert
Jede Aktie verfügt über zwei Wert-Bestandteile, die den Investoren als Kaufmotiv dienen. Einerseits die aktuelle, relativ klar bewertbare Substanz wie beispielsweise Immobilien, Lagerbestände und Patente. Dies ist Bewertung der Gegenwart («was ist»). Die zweite Komponente, welche von Investoren im Fokus sein kann, ist das absehbare Wachstum einer Firma, also die Zukunft («was sein kann»).

Die zwei Bestandteile von Wert
Die Bewertung der Gegenwart einer Firma ist relativ gut nachvollziehbar. Die einzelnen Bestandteile können aus der Bilanz entnommen werde. Dazu bedient sich die Firma bei Vermögenswerten (Assets) gängiger Bewertungsmethoden, die davon ausgehen, dass die aktuellen Erträge auch in Zukunft erreicht werden. Für nicht direkt durch Geldflüsse bewertbare Assets werden auch Markt- oder Liquidationswerte herangezogen, die gelöst werden können, wenn man die Firma stückweise verkaufen würde, wobei es sich hier häufig auch um Schätzungen handelt.
Bei der Bewertung der Zukunft – also des Wachstums – nun wird es etwas komplizierter. Das Wachstum wird anhand der vermuteten Cash Flows geschätzt, die in den nächsten Jahren mutmasslich anfallen werden. Da für uns alle jedoch ein Franken bar auf die Hand mehr wert ist, als erst in einem Jahr, wird die finanzmathematische Methode der Abdiskontierung angewendet, um zu errechnen, wieviel die zukünftigen Erträge zum heutigen Zeitpunkt wert sind. Da die Erträge mit dem Diskontfaktor dividiert werden, ist der heutige Wert umso kleiner, je höher der Diskontfaktor. Als Diskontfaktor kann eine The Blue Notes Januar 2022 The Blue Notes / Januar 2022 2/3 jährliche Rendite herangezogen werden, welche anstelle eines Investments in eine Aktie oder ein ähnliches Projekt erzielt werden könnte. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von «Opportunitätskosten», was dem Nutzen aus der nächstbesten, nicht gewählten Variante entspricht. Der Diskontfaktor wird auch stark durch das allgemeine Zinsniveau beeinflusst; in der Regel wird nämlich der sogenannte «risikolose Zinssatz» einer noch 10 Jahre laufenden Staatsobligation in der entsprechenden Währung herangezogen.
Steigende Zinsen
In den letzten Wochen nun hat sich insbesondere in den USA abgezeichnet, dass die Zinsen steigen werden, weil die Inflation durch die Notenbank bekämpft werden muss. Höhere Zinsen bedeuten höhere Kosten für Kredite, was i.d.R. die Konjunktur etwas dämpft. Die Konjunktur ist einer der Bestimmungsfaktoren für die Höhe der Inflation.
Steigende Zinsen bedeuten einen höheren Diskontierungsfaktor. Da bei Wachstums-Titeln der Grossteil der Bewertung in der Zukunft liegt, kommt es zu einer Neubewertung der Wachstumstitel. Genau das ist in den letzten Wochen und Tagen passiert. So, wie es im Lehrbuch steht
Die neuen Versorger
Genau nach Lehrbuch verhalten sich die meisten Investoren und die von ihnen programmierten automatisierten Handelsprogramme. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Nur werden dabei die nicht im Lehrbuch stehenden «grossen Linien» ausgeblendet.
Über das Bewertungsmodell hinaus sehe ich eine Entwicklung, welche ausgeblendet wird:
Aus Growth kann Value werden.
Bislang galten die Aktien von Versorgern als klassische Value-Titel. Anbieter von kritischen Rohstoffen wie Wasser und Energie (Elektrizität, fossile Energie) sowie die Betreiber der Netzwerke und Infrastruktur für deren Gewinnung und Verteilung galten als relativ beständige, nicht stark wachsende Garanten für Erträge. Als Gegenstück galten Software-Giganten Microsoft und Google (Alphabet) oder die Computer-Chip-Produzenten wie Intel, NVIDIA und Taiwan Semiconductor als klassische Wachstumstitel, deren Fantasie irgendeinmal verglühen würde.
Die Wachstumsraten dieser Firmen werden auf ein tieferes Niveau zurückkommen. Ich bin aber davon überzeugt, dass viele dieser «Tech-Wunder» im Depot bleiben werden, weil ihr Wachstum immer noch überdurchschnittlich sein wird und ihre Rolle mittlerweile diejenige von systemkritischen Versorgern ist. Wir alle können eigentlich ohne sie gar nicht mehr funktionieren. Die Google-Mutter Alphabet verzeichnet aktuell pro Quartal Einnahmen von rund USD 70 Milliarden. Stellen Sie sich vor, Google käme es in den Sinn, für die bislang gratis angebotenen Dienste wie die Suchmaschine, E-Mail oder Google Maps monatlich nur USD 5.- zu verlangen – In unseren Breitengraden kein grosser Betrag. Würden Sie dieser USD 60.- pro Jahr wegen auf diese Dienste verzichten? Wenn nur schon alle User in den USA diesen Betrag zahlen würden, würde Google pro Jahr rund USD 15 Milliarden mehr verdienen.
Diese Ausführungen zeigen:
- Das Wachstumspotential gewisser Technologie-Firmen ist noch lange nicht ausgeschöpft.
- Viele Technologie-Firmen sind mittlerweile «to important to be neglected», zu wichtig, um ignoriert zu werden - man kommt nicht mehr ohne sie aus. Genau so wenig, wie man ohne Energie, Wasser und deren Anbietern nicht auskommt.
- Es gibt neben den Grundstoff-Versorgern neu auch die IT- resp. Technologie-Versorger.
Die Rotation von «Growth» in «Value» ist für mich finanz- und handelsprogramm-technisch durchaus nachvollziehbar. Für viele hochprofitable Tech-Titel ist sie jedoch zu kurzsichtig, denn sie sind zu stark The Blue Notes / Januar 2022 3/3 wachsenden Value-Titeln geworden – etwas, was ich als Goldlos bezeichnen würde. Solche Lose kann man durchaus achtlos aus dem Depot kippen. Viele Verkäufer der letzten Wochen werden